· 

Weihnachtszauber im Garten

Zwerge, Elfen, Trolle, Einhörner und Drachen: In den Märchen wird die unsichtbare Welt sichtbar gemacht. Die Heldinnen und Helden begegnen dort regelmässig den Wesen aus der Anderswelt und erhalten durch sie hilfreiche Hinweise. Sie pflegen einen Umgang mit ihnen, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre. 

 

Die Welt, in der sich die Märchenhelden bewegen, besteht aus zwei Wirklichkeiten: die reale und die Fantasiewelt. Die Fantasiewelt wird als Anderswelt bezeichnet. Weil die Protagonisten in Kontakt mit beiden Welten stehen, halten wir Märchen generell für eine Fantasterei.

 

Was aber, wenn diese Art, die Wirklichkeit zu sehen, lediglich eine andere Sichtweise ist? 

 

Die Anderswelt

 

In den Märchen durchdringt die Anderswelt die normale Wirklichkeit. Dort entsteht alles Materielle und dorthin verschwindet es auch wieder nach seinem Ableben. Es war für die Märchenzeitbewohner (beginnende Bronzezeit) ein meist unsichtbarer Ort, an dem alles kreiert und umgewandelt wurde. Dort konnte sogar Einfluss auf das Schicksal genommen werden. Ab und zu kamen die Menschen in Kontakt und wurden Zeuge dieser wunderlichen Welt. Sie konnten einen Blick hinter den dünnen Schleier werfen. Davon wurde dann in Geschichten - den Märchen und Sagen - berichtet.

 

Der Begründer der Quantentheorie, Max Planck, argumentierte, dass unsere Welt von sogenannten Geistwesen bevölkert sein müsse. Hinter jeder Energie könne ein intelligenter Geist als Urquelle vermutet werden, denn ohne Geist gäbe es keine Materie, sagte er. Da aber auch Geist als solcher nicht per se existieren könne, sondern zu einem Wesen gehören müsse, seien wir gezwungen, anzunehmen, dass es so etwas wie Geistwesen tatsächlich gibt.1  

 

Die Märchen stellen also Geistwesen dar.

 

Besonders während der Zeit der Wintersonnenwende und in der Weihnachtszeit soll es für Menschen möglich sein, einen Blick hinter den Schleier zu werfen, wie es zum Beispiel in diese Thüringer Sage heisst:

 

Die Taube mit dem goldenen Stühlchen im Thüringer Land

 

Es lebte einmal ein gottesfürchtiger Bauer. Als wieder einmal das Jahr in die Zwölf Nächte mündete, schlich er heimlich hinaus auf den Acker und in seinen Obstgarten. Wie er es seinen verstorbenen Vater hatte tun sehen, ging er zum Apfelbaum und schüttelte ihn. Dann schüttelte er den Birnbaum und sprach dazu:

 

“Bäumchen wach auf, Frau Holle kommt!“ 

 

Plötzlich hörte er ein leises Rauschen und ein feiner Schauer rieselte den Baum herab. Wie von einem Flügelschlag her kommend, wehte ein Wind heran. Da erschien Frau Holle im Kleid einer weissen Taube. Sie schwebte alsbald über die verschlossenen Knospen, umkreiste jeden Baum, den ganzen Garten, und breitete schliesslich ihre Flügel weit über dem Acker aus. Dabei war es, als ob sie singen würde. Und wo sie war, senkte sich ihr Segen in den Boden, tief in die schlummernden Wurzeln hinein, auf dass sie wiedererweckt würden für das kommende Jahr.

 

An ihrem Fuss trug sie ein goldenes Stühlchen und der Bauer wusste, dass dort, wo sie sich darauf setzte, um zu rasten, im nächsten Jahr die schönsten Blumen erblühen würden. 

 

Die weisse Taube ist in dieser Geschichte der intelligente Geist aus der Anderswelt. Zur Weihnachtszeit ruft er die Säfte der Erde wieder hervor.

 

Später wurde die Taube zum christlichen Symbol des Heiligen Geistes, aber in der Entstehungszeit der Märchen und Sagen sprach man noch von einer Muttergöttin, die hier am Werk sei. Oftmals wurde sie Frau Holle oder Mutter Hulda genannt. Dass es zu Beginn heisst, der Bauer sei ein gottesfürchtiger Mann, der sich heimlich auf den Acker schleicht, zeigt, dass das Ritual, Frau Holle anzurufen, noch lange in die christliche Zeit hinein praktiziert wurde. Daher die später hinzugefügte Erklärung, dass der Mann trotz seines vorchristlichen Rituals ein gottesfürchtiger Mann war. Es entspricht ganz der mündlichen Erzähltradition, dass eine Geschichte vom Erzähler aktualisiert wird.

 

Man könnte jetzt argumentieren, dass die Natur jedes Jahr ganz von selbst erwacht, auch ohne unser Zutun und Bäumchenrütteln. Dennoch, wie schön wäre es, solch besonderen Vorgängen beizuwohnen! Möchten wir sie nicht auch wahrnehmen können? Der Bauer liebt seinen Garten, die Bäume und die Felder, und indem er dieses kleine jährliche Ritual ausführt, wird er Zeuge des intelligenten Geistes, der hinter allem wirkt. Er darf einen Blick hinter den Schleier werfen. Wieso sollten wir uns nicht auch von den alten Überlieferungen dazu inspirieren lassen und unseren winterlichen Garten mit anderen Augen sehen? 

 

 

©Andrea Hofman, 2020 


1 Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft/Archive on the History of the Max Planck Society , Abt. Va, Rep. 11 Planck, Nr. 1797 



Kommentar schreiben

Kommentare: 0